Wenn ein 14 Jahre alter heftig pubertierender Junge einige Programmierer zur Verfügung hätte und seine kleine Schwester mit der Auswahl der Effekte beauftragen würde, dürfte das erste Spiel dieses skurrilen Teams vermutlich so aussehen wie Lollipop Chainsaw. Bei dem neuesten Werk der Macher von No More Heroes handelt es sich tatsächlich um ein ultrabrutales Kettensägen-Zombie-Massaker mit einer spärlich bekleideten Protagonistin und einer verstörenden Hello-Kitty-Farbpalette.
Abgesehen von der originellen Aufmachung wird uns ein typisches Actiongame aus der Third-Person-Perspektive geboten. Die Hauptdarstellerin, die meistens ein unbeschwertes Leben als Schülerin und Anführerin der Cheerleader führt, outet sich schnell als Expertin im Zerlegen von Untoten. Der Name Juliet Starling, der sich verdächtig nach dem Pseudonym einer Stripperin anhört, und das grelle Kostüm locken den Zocker nur im kurzen Intro auf eine falsche Fährte. Sobald die Heimatstadt der Heldin von blutrünstigen Monstern überrannt wird und das Leben ihres Angebeteten in Gefahr ist, zeigt Juliet ihr wahres Gesicht. Bewaffnet mit einer Kettensäge, Pom-Poms und erstaunlichen akrobatischen Fähigkeiten metzelt sich die junge Dame durch die Fieslinge.
Die Story ist schön schräg und der eigentliche Grund dafür, dass sich das Durchzocken lohnt. Die gewagte Mischung aus High-School-Drama, Horror und Comedy funktioniert extrem gut. Da es bereits früh im Spiel zu einer überraschenden Wendung kommt, die sich auf das gesamte Gameplay auswirkt, verraten wir an dieser Stelle ausnahmsweise etwas mehr als üblich (VORSICHT SPOILER!) Juliet sieht sich nach einer Zombie-Attacke leider dazu gezwungen, ihrem Herzbuben Nick den Kopf abzuschneiden und anschließend durch ein magisches Ritual am Leben zu erhalten. Der Schädel dient während des weiteren Abenteuers nicht nur als Gesprächspartner, sondern wird auch immer wieder als Werkzeug oder Waffe eingesetzt. Spätestens hier wird klar, dass die kreativen Köpfe hinter Lollipop Chainsaw über einen äußerst speziellen Humor verfügen, der sich in vielen Situationen während des gesamten Games finden lässt.
Es ist durchaus möglich, Chainsaw Lollipop als Satire zu verstehen und die untoten Horden ohne moralische Bedenken in kleine Teile zu zerlegen. Wirklich alles an diesem Game ist bis an die Schmerzgrenze übertrieben und praktisch jedes Vorurteil, das besorgte Medienwächter haben, wird bestätigt. Das Actionspektakel ist extrem gewalttätig, absolut sexistisch und bombardiert seine Konsumenten mit einem Effektfeuerwerk, das wahrscheinlich selbst bei chronischen Dauerzockern bleibende Schäden verursacht. Es grenzt an ein kleines Wunder, dass es gelungen ist, dieses Produkt in ungeschnittener Form auf den deutschen Markt zu bringen.
Juliet kann ihre Feinde mit leichten Attacken mürbe machen, um sie im Anschluss mit einem gezielten Kettensägenhieb zu köpfen. Wer sich nach diesem Schema durch die Fieslinge kämpft, statt sie schnell zu erledigen, wird mit besonders vielen Goldstücken belohnt.
In Shops, die strategisch gut platziert wurden, darf das Ersparte dann in neue Attacken, Upgrades und allerlei Extras, wie beispielsweise noch schlampigere Klamotten, investiert werden. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass Juliets Kampfkünste nicht so umfangreich sind, wie die ihrer männlichen Kollegen Nero (Devil May Cry 4) oder Kratos (God of War). Das Gameplay bleibt oberflächlich und spätestens ab der Mitte des Spiels werden die Auseinandersetzungen mit den Standard-Gegnern ziemlich langweilig. Merkwürdig wirkt die Tatsache, dass es keine Möglichkeit zum Blocken gibt. Statt eine gegnerische Attacke schnell abzuwehren, springt Juliet oft mehrfach wild durch die Gegend, bis sie eine bessere Angriffsposition gefunden hat. Glücklicherweise kommt es regelmäßig zu Bosskämpfen oder Mini-Games, die interessant genug sind, um über die Mankos hinwegzutrösten.
Chainsaw Lollipop ist ein sehr lineares Vergnügen für Solisten. Außer dem Online-Highscore-Vergleich, der inzwischen Standard ist, gibt es keinerlei Multiplayer-Optionen. Das wäre nicht sonderlich tragisch, wenn wir es mit einem epischen oder zumindest abwechslungsreichen Actiontitel zu tun hätten. Dem ist aber nicht so! Nach einmaligem Beenden, was zwischen fünf und acht Stunden in Anspruch nimmt, werden nur absolute Genre-Liebhaber oder extrem wettkampforientierte Zeitgenossen den Drang verspüren, die weiteren Schwierigkeitsgrade anzutesten und auf Highscorejagd zu gehen.
Die grafische Darbietung kann als durchwachsen bezeichnet werden. Die Heldin ist toll animiert und führt ihre Kampfkünste in atemberaubender Geschwindigkeit vor. Auch die Effekte wissen zu gefallen. Regelmäßig ist der Bildschirm gut gefüllt mit Lichtblitzen, Herzchen in grellen Neonfarben und bunten Fontänen, die aus Zombiekörpern spritzen. Der Stilmix ist originell und es dauert einige Stunden, bis man sich daran sattgesehen hat.
Leider sind die teilweise simplen Kulissen und ein Großteil der Gegner qualitativ nicht auf dem neuesten Stand der Technik. Es ist nachvollziehbar, dass Untote keine akrobatischen Kunststücke vorführen, aber die Bewegungspalette wirkt trotzdem zu mickrig. Absolut veraltet sehen die potentiellen Opfer aus, die in regelmäßigen Abständen gerettet werden müssen. So simple Charaktermodelle gab es seit den Zeiten von PS2, Gamecube und Xbox 1 nur noch selten zu sehen.
Irgendein berühmter Mensch mit dem Künstlernamen Little Jimmy Urine (Igitt!) ist für den Soundtrack verantwortlich. Der Autor dieses Testberichts ist offensichtlich zu alt oder zu unhip, um jemals zuvor von diesem Musiker gehört zu haben, kann aber bestätigen, dass fantastische Arbeit geleistet wurde. Bei Chainsaw Lollipop gibt es ordentlich was auf die Ohren. Sowohl die rockigen Instrumentalstücke als auch die zugekauften Lizenz-Tracks passen perfekt zur Atmosphäre des Games.
Auch die englischsprachigen Schauspieler, die den Figuren ihre Stimmen leihen, sind talentiert. Juliet erfüllt das Klischee des dummen Blondchens auf ganzer Linie. In Sachen Wortwitz muss sie sich aber ihrem Freund Nick geschlagen geben, der das Geschehen immer wieder passend kommentiert. Die Monologe der Gegner bestehen praktisch komplett aus Beleidigungen. Seit dem hierzulande nie veröffentlichten Gunshooter The House of the Dead – Overkill wurde in einem Videospiel nicht mehr so viel geflucht.
Wenn nur das reine Gameplay betrachtet wird, ist Lollipop Chainsaw ein recht konservativer Vertreter des Actiongenres mit einem eingeschränkten Kampfsystem. Auch die ständigen Wiederholungen und das Fehlen jeglicher Multiplayer-Modi sind klare Zeichen minderwertiger Qualität. Trotz solcher spielerischen Oberflächlichkeiten fällt es allerdings schwer, den Controller aus der Hand zu legen, sobald die wilde Zombiejagd begonnen hat. Das Game entpuppt sich als ein Frontalangriff auf die Sensibilität, den gesellschaftlich akzeptablen Umgang mit Geschlechterrollen, die vornehme Zurückhaltung bei Gewaltdarstellungen und eventuell sogar den guten Geschmack. Wer über die entsprechenden Neigungen verfügt, kann also gar nicht anders als auf den Bildschirm zu starren. Welche schlüpfrige Anspielung wird die nächste sein? Welches grausame Ende erwartet den Boss am Levelende? Gibt es englischsprachige Schimpfwörter, die ich noch nicht kenne? Solche und ähnliche Fragen quälen den durchschnittlichen Lollipop-Chainsaw-Zocker oft stundenlang und obwohl man ständig das leicht unangenehme Gefühl hat, sich der Schaulust schuldig zu machen, bringt die Suche nach den Antworten eine Menge Spaß. Neben den bereits genannten Mankos verhindert auch die kurze Gesamtspieldauer eine Top-Wertung. Als originelles, lustiges und kompromissloses Wochenend-Entertainment eignet sich die Schlacht gegen die Untoten aber auf jeden Fall!